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Alltagserfahrungen mit Kreisorganisation im gesewo-Haus EinViertel*

Wir haben Martin Borst gefragt, welche Erfahrungen er in den letzten Jahren im «Alltagsbetrieb» einer Soziokratischen Kreisorganisation gemacht hat. Martin ist Mitglied des Koordinationskreises, des Steuerungskreises Soziokratie und Leitung des Bereichs Vermietungen in EinViertel.

1. Martin, was hat sich aus deiner Sicht verändert, seit sich EinViertel mit soziokratischen Methoden organisiert?

Im EinViertel hatten wir das Glück, fast von Anfang an mit der soziokratischen Methode arbeiten zu können. Nach einigen schwierigen Mehrheitsentscheiden (13:14) war sehr schnell klar, dass wir besser abgestützte Entscheide wollen. Die Kreis-Organisation mit Konsent-Entscheiden, kombiniert mit der Bestätigung von sehr wichtigen Themen durch die MV mit Mehrheitsentscheid, bewährt sich.

2. Welches waren aus deiner Sicht die grössten «Stolpersteine», denen ihr beim Umsetzen der soziokratischen Prinzipien und Empfehlungen bis jetzt begegnet seid?

  • Widerstand gegen «die Soziokratie»: einige Skeptiker*innen sehen in der Soziokratie wohl eine Art Sekte und lassen sich nicht oder nur ungern auf die Methode ein.
  • Unklarheit in den Domains: Welcher Kreis ist wozu entscheidungsbefugt? Wann kann ein übergeordneter Kreis einen Entscheid aus dem unteren Kreis anfechten respektive annullieren? Der Grundsatz «der untere Kreis entscheidet, was in den oberen Kreis gehört», ist noch nicht umgesetzt.
  • Unschärfe beim Protokoll: Es ist nicht immer klar, wozu genau ein Kreis seinen Konsent gegeben hat. Das Prinzip «Konsentvorschläge vor dem Entscheid sichtbar machen» ist noch nicht durchgängig umgesetzt.

3. Welche Elemente der SKM sind für euch bislang besonders hilfreich?

  • «Reden im Kreis» wird sehr geschätzt. Die Diskussionen verlaufen damit ruhiger, sachlicher, konstruktiver. Auch eher zurückhaltende Menschen äussern sich und werden gehört.
  • Vorgegebene Sitzungsstruktur gibt Sicherheit im Ablauf. Gut vorbereitete Sitzungen und Traktanden vereinfachen die Entscheidungsfindung.
  • Delegation der Entscheidungskompetenz nach unten: Damit wird die MV deutlich entlastet.
  • Die offenen Wahlen erleichtern die Besetzung von Schlüsselpositionen (z. B. auch Delegierte, Protokollführung).
  • Temporär eingesetzte Hilfskreise erleichtern die detaillierte Beratung eines Themas.

4. Welche Tipps kannst du Wohngenossenschaften geben, die sich soziokratisch organisieren möchten?

  • Lasst euch vom anfänglichen Gefühl «es ist so kompliziert» nicht entmutigen. Bereits nach einigen Sitzungen stellt sich eine gewisse Vertrautheit und Selbstverständlichkeit ein.
  • Kommuniziert regelmässig über die getroffenen Entscheide und die Fortschritte in der Organisationsentwicklung
  • Wählt möglichst von Anfang an einen Alternativ-Begriff zu  «Soziokratie» – scheint für manche ein Reizwort zu sein.
  • Klärt eure  «Hierarchie» von Anfang an. Soziokratie heisst nicht per se flache oder gar keine Hierarchie , sondern bedeutet, die Entscheidungskompetenz innerhalb einer Organisation dort zu haben, wo sie sachgemäss ausgeübt werden kann – in einer Hierarchie also viel «nach unten» zu geben.

5. Was begeistert dich persönlich an Soziokratie?

Vieles. Vor allem immer wieder den Weg zu finden, gemeinsam an einem Strick zu ziehen statt ins Polarisieren zu verfallen.

Herzlichen Dank, Martin!

* Die Gesewo-Siedlung EinViertel ist Teil des Hauses Krokodil im Herzen des neuen Stadtteils Lokstadt im Zentrum von Winterthur. Das selbstverwaltete Haus wurde nach mehrjähriger Vorarbeit der jetzigen Bewohnenden im September 2020 als erstes Gebäude dieses Stadtteils fertig gebaut und zeichnet sich aus durch zahlreiche Gemeinschaftsräume, Jokerzimmer, Gewerbenutzungen und über 70 Wohnungen für an die 200 unterschiedliche Menschen aus verschiedenen Generationen.