Entscheide mit beeinträchtigten Menschen treffen
Ein soziokratisches Pilotprojekt in der Schweiz
Das Leben in der Wohngemeinschaft Aemiesegg in St. Peterzell SG wurde nach soziokratischen Prinzipien neu gestaltet. Alle leisten einen Beitrag zum gemeinsamen Wohnen, haben ihre Aufgaben im Haus oder für die Gemeinschaft. Sei dies im Bereich des ausgebauten Gästezimmerangebotes oder in der Landwirtschaft.
.
Die grosse Veränderung strukturiert angehen
Auf der Aemisegg prägt Empowerment schon lange das Konzept. Nach der positiven Erfahrung, das Angebot «Pilgerzimmer» zusammen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern umzusetzen, war klar, den Veränderungsprozess hin zu einer noch eigenständigeren, weniger personalintensiven Wohngemeinschaft, ebenfalls gemeinsam mit den Bewohnenden zu gestalten. Das Anliegen, den Partizipationsprozess strukturiert anzugehen, führte Mägi Knaus, Leiterin der Institution, zur Soziokratischen Kreisorganisationsmethode (SKM). Klar war, dass der Partizipationsprozess zuerst im Team gestartet werden soll, um später die Bewohnenden darin zu unterstützen. Auch im sogenannten «Teamkreis» ist es dann ein Lernprozess, sich stärker mit der eigenen Meinung einzubringen. Im nächsten Schritt wurde der «Bewohnendenkreis» eingeführt, ein Herzstück im Veränderungsprozess. Hier ging es zuerst darum, dass die Bewohnerinnen und Bewohner lernten, ihre Bedürfnisse in der Gruppe zu artikulieren. Darauf folgte die Einrichtung des «Allgemeinen Kreises», in dem Vertreterinnen und Vertreter der drei Unterkreise teilnehmen. Im «Allgemeinen Kreis» wurden die konkreten Rahmenbedingungen für die Veränderungen geplant.
Nacheinander im Kreis
Mit der Hilfe eines Balls, den sie einander weitergaben, haben sich die Bewohnenden rasch daran gewöhnt, nacheinandner im Kreis zu reden – und gemerkt, wie wohltuend es ist, wenn einander zugehört wird. An ihrer ersten Kreisversammlung sammelten die Bewohnerinnen und Bewohner Themen, die für sie wichtig sind, etwa die Berücksichtigung der Privatsphäre, die gegenseitige Rücksichtnahme sowie das Bedürfnis, sich über Erfahrungen z. B. mit Medikamenten auszutauschen. Mägi und die TSG-Begleitung unterstützten die Bewohnenden dabei, die Bedürfnisse hinter pauschalen Aussagen zu finden und zu formulieren. Dies schaffte eine Atmosphäre von Ruhe und gegenseitigem Verständnis. In der Abschlussrunde der ersten Kreisversammlung wurde deutlich, dass die meisten Bewohnerinnen und Bewohner ausgesprochen motiviert waren. «Es interessiert mich, was andere meinen», hiess es etwa. Oder: «Schön und lehrreich, wenn jeder etwas sagt, um sich besser kennenzulernen». «Gut, dass Entscheide gemeinsam getroffen werden – dann ist es leichter, sich daran zu halten».
.
Entspannt und verständnisvoll statt chaotisch und angriffig
In der Auswertung waren alle überrascht über den positiven Verlauf der Kreisversammlung. Sitzungen mit den Bewohnenden waren früher oft chaotisch und angriffig verlaufen. Doch sobald Bewohnende einander zuhören, schafft dies Verständnis füreinander. Wenn z. B. eine Bewohnerin sagt: «Ich will beim Putzen nicht gestört werden, denn ich habe Angst, dass ich dann wütend werde und zuschlagen könnte.» Eine Folge der ersten Erfahrungen war, dass für die Kreisversammlungen der Traktandenpunkt «Infos & Mitteilungen» eingeführt wurde. Werden Themen und Anliegen der Bewohnenden in den Kreisversammlungen besprochen, lohnt es sich für diese daran teilzunehmen und sich einzubringen: An der dritten Versammlung war der kritische Bewohner P., der in den ersten beiden Versammlungen schon bald «die Post holen musste …», von Anfang an entspannt und blieb die ganze Sitzung dabei. Die Bewohnerin O., die bisher ärgerlich und unmutig war («Ich sage nichts …!») beteiligte sich ausgesprochen konstruktiv. Mägi staunte, wie rasch sich die Bewohnenden auf die neuen Prozesse einliessen, auch als es darum ging, in einer Soziokratischen Wahl eine Delegierte aus dem Kreis der Bewohnenden in den Allgemeinen Kreis zu wählen (s.o.).
Inklusiver Aufnahmeprozess
Die Bewohnerinnen und Bewohner wurden auch in den Aufnahmeprozess von neuen Bewohnenden einbezogen. Im Zentrum steht dabei eine Art Kennenlernrunde, in der jede und jeder von sich erzählt, auch über schwierige Lebensphasen und Ereignisse. In einer weiteren Runde äussern sich dann alle, was ihnen an der neu interessierten Person gefällt, wo sie Schwierigkeiten sehen – auch im Hinblick auf das Zusammenwohnen. Ein Beispiel: Bei einem Neuinteressierten war es zunächst schwierig, ihm eine Probezeit zu ermöglichen: So hatte eine bisherige Bewohnerin Mühe mit dem Hund, den er mitbrachte. Andere merkten aber, dass der für ihn sehr wichtig war. Im Konsentverfahren wurden dann Rahmenbedingungen für eine Lösung gefunden und gemeinsam entschieden: Der Hund darf nicht in die Küche, nicht auf Sofas und nicht im WG-Auto mitfahren, er darf sich aber im Haus aufhalten.
«Ihm das Zmorge machen, weil er sonst nicht essen würde»
Auch bei der Reduktion des Fachpersonals wurden die Bewohnenden frühzeitig und kleinschrittig einbezogen und gefragt, was sie selber übernehmen können und wollen. Zum Beispiel bereiten die Bewohnenden inzwischen Frühstück und Abendessen selber zu. So einbezogen und ernst genommen, überrascht es niemanden, wenn ein Bewohner einem anderen regelmässig das Zmorge zubereitet, «weil der sonst nichts essen würde…».
Mägi, welche drei Tipps kannst für SKM mit beeinträchtigten Menschen geben?
- Eigenverantwortung: Regeln etc. nicht vorgeben, sondern mitentscheiden und mitverantworten lassen. Das entlastet Leitende und Bewohnende.
- Gerade bei Personalmangel: Intern schauen, was sich mit den vorhandenen Ressourcen durch veränderte Organisations- und Entscheidungsstrukturen bewirken lässt.
- Auch das schwächste Mitglied integrieren. Wenn jede:r im Kreis merkt, er/sie hat gleich viel Recht und Macht wie alle anderen im Kreis, können ungeahnte Beweglichkeiten und Fähigkeiten zum Vorschein kommen.
Probiert es unbedingt aus!