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Neue Wege im Bildungssektor

Lehrpersonenmangel, Burnouts und viele Wechsel. Laut Armin Sieber, dem Schulleiter der Integralen Tagesschule Winterthur (ITW), ein deutliches Zeichen dafür, dass die Alltagskomplexität im normalen Schulbetrieb zu hoch ist – und dass es neue Ansätze braucht. Die ITW und die Unico-Schule in Bern gehen neue Wege und erzählen von ihren Erfahrungen mit Soziokratie im Schulalltag.

Wenn neue Schüler*innen an die ITW kommen und als Erstes eine Check-In-Runde im Schulkreis erleben, berichtet Armin Sieber, sind sie erstmals erstaunt über die vorherrschende Atmosphäre. Die ITW ist eine staatlich anerkannte, private Oberstufenschule und nimmt vor allem Schüler*innen auf, die im Rahmen einer öffentlichen Schule ihr Potential nicht voll entfalten können. Seit der Gründung 1995 wurden immer wieder neue Methoden ausprobiert und integriert. Die Einführung soziokratischer Elemente erfolgte ab 2014, u.a. aus einem Bedürfnis nach mehr Resilienz und Weisheit im System und dem Wunsch, die Schule nicht abhängig von Einzelpersonen zu machen. Oder, wie es Armin Sieber ausdrückt: «Mein Ziel war es immer, als Schulleiter überflüssig zu werden.»

Nach einer gemeinsamen Reise nach Holland, während derer ein Team aus Schulleitung, Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern verschiedene soziokratisch organisierte Schulen besuchte, begannen sie in der ITW, zuerst in Teamsitzungen, das Entscheiden im Konsent einzuführen. Das Auflösen der klassischen Fronten unter Berücksichtigung des Grundsatzes good enough for now, safe enough to try bezeichnet Armin Sieber auch heute noch als eines der hilfreichsten soziokratischen Elemente für den Schulalltag.

Mitbestimmung der Schüler*innen

Mit der Zeit folgte – in Absprache mit Eltern und Schüler*innen-Vertretungen – eine Ausweitung auf die gesamte Schule und das Erstellen einer Kreisstruktur. Die Mitbestimmung der Kinder und Jugendlichen am Schulalltag hat sich dadurch merklich erweitert. Schon vorher gab es in der ITW die Solution League, in der gewählte Vertreter*innen verschiedener Lernteams die Anliegen der Schüler*innen einbringen konnten. Mit dem Einbezug soziokratischer Elemente hat sich diese «Kommunikation auf Augenhöhe» weiter intensiviert. Immer am Dienstag und Donnerstag gibt es in der Schule «Kreiszeiten», innerhalb derer sich die Schüler*innen an verschiedenen Kreisen – permanenten oder temporären – beteiligen können. Möchten Schüler*innen ein bestimmtes Thema angehen, können sie einen neuen Kreis gründen, bei dem je nach Bedarf auch eine Lehrperson dabei ist. Schüler*innen entscheiden selbst, ob sie in den verschiedenen Kreisen mitmachen wollen. Und müssen aber auch die Konsequenzen tragen, wenn ohne sie entschieden wird – «auch das ist ein Lernschritt.»

Grundsätzlich sei die Soziokratie immer ein Werkzeug, sagt Armin Sieber. Entscheidend sei für ihn die Haltung dahinter: Der Glaube an Gleichwürdigkeit und eine radikale Offenheit im gemeinsamen Gestaltungsraum.

Soziokratie etablieren

Auch in der Unico-Schule in Bern war der Wunsch nach breit abgestützter Verantwortung ein ausschlaggebendes Argument für Soziokratie. Die Privatschule mit circa 30 Kinder im Alter von 4-11 Jahren startete 2019 nach mehrjähriger Gründungszeit mit dem ersten Schuljahr. «Die Unico entstand aus einer Community heraus und es war von Anfang an klar, dass wir mit Soziokratie arbeiten wollen», erzählt Tobias Leugger, der bei der Unico mitarbeitet und bei der Gründung involviert war. «Wir wollten verhindern, dass die Hauptlast bei wenigen Gründer*innen liegt, die alles machen und somit viel Verantwortung (und Macht) haben.» Ausserdem passe Soziokratie auch zum Konzept der selbstbestimmten Schule: «Eine klassische Organisationsstruktur darüberzustülpen würde nicht gehen – es geht ja auch darum, den Kindern die Prinzipien der Mitbestimmung und Gleichwertigkeit vorzuleben.»

«Zu Beginn verwendeten wir Soziokratie nur für die Organisation der Schule unter den Erwachsenen. Vor allem im Koordinationskreis – unserer Schulleitung – und in der Administration», erzählt Tobias Leugger. In der Gründungsphase und im ersten Schuljahr wurde viel Energie in die Erarbeitung einer Kreisstruktur und der verschiedenen Verantwortungsbereiche und Rollen gesteckt. Das hilft dabei, dass nicht immer die gleichen Personen Aufgaben übernehmen, sondern breiter delegiert werden kann. Die Beteiligung der Kinder an der Kreisstruktur stand anfangs noch nicht im Fokus – die Kinder schienen zu klein und die Lernbegleiter*innen hatten selbst noch wenig Erfahrung mit Soziokratie. «Es war aber immer das Ziel, dass auch die Kinder mitbestimmen.» Seit letztem Jahr treffen sich die älteren Schüler*innen nun einmal pro Woche im «Uni-Rat».

Herausforderungen und Schwierigkeiten

Natürlich gab und gibt es auch immer wieder Schwierigkeiten. Eine Herausforderung in der Unico ist laut Tobias Leugger der Einbezug der Eltern in die Kreisstruktur. Die Grundidee der Unico ist, die Eltern sehr stark einzubinden: Alle Elternteile sind Teil der Genossenschaft und müssen 1-2- Stunden pro Woche ehrenamtlich mitarbeiten. Das zu organisieren, bedeutet aber viel Aufwand. Und die Erwartung, dass alle Eltern dieselben zeitlichen Kapazitäten haben und gleich aktiv sind, hat sich als nicht realistisch herausgestellt: «Man muss auch akzeptieren, dass nicht alles unserem Ideal entspricht. Wir versuchen inzwischen, das Augenmerk vor allem darauf zu legen, ob alle Beteiligten mit ihren Rollen und ihrem Arbeitsaufwand zufrieden sind.»

Auch in der ITW ist der Einbezug der Eltern mit zunehmender Grösse (und mehr alleinerziehenden Elternteilen mit weniger zeitlichen Ressourcen) schwieriger geworden.
Eine stete Herausforderung besteht für Armin Sieber ausserdem darin, eine «Kultur des unterstützenden Teilnehmens» im Team zu entwickeln. Was tun, wenn z.B. an der Teamsitzung eine Person starken Widerstand zu einem Vorschlag äussert? «Wir versuchen dann, rauszuzoomen und zu fragen: um was geht es genau?» Methoden wie Gewaltfreie Kommunikation, aber auch das Bewusstmachen des gemeinsamen Ziels, können dabei helfen. Wenn das gemeinsame Ziel formuliert ist, kann man schwerwiegende Einwände auch in Bezug auf ebendieses Ziel formulieren. Also: Gefährdet dieser Beschluss den purpose, die Mission der Schule bzw. des Kreises? Geht es wirklich um das gemeinsame Ziel oder ist es ein persönliches Thema?

Wo beginnen?

Sowohl die Unico als auch die ITW haben soziokratische Elemente erfolgreich in die Schule integriert. Was empfehlen sie Schulen, die mit Soziokratie arbeiten wollen, aber nicht wissen, wie und wo beginnen? Tobias Leugger von Unico rät, dort anzusetzen, wo der «Schuh drückt», also dort, wo Veränderung am dringendsten benötigt wird. Wenn z.B. Teamsitzungen stets frustrierend sind, mit der soziokratischen Sitzungsgestaltung zu beginnen – damit der Nutzen für die Teammitglieder unmittelbar sichtbar ist. Auch bei Schüler*innen kann ganz einfach begonnen werden – z.B., so Armin Sieber, mit der soziokratischen Wahl zur Klassensprecher*in.

Auch die Motivation muss klar sein: Tobias Leugger: «Es muss genug Leute geben, die davon überzeugt sind, dass Werte wie Gleichwertigkeit und das gemeinsame Entscheiden wirklich wichtig sind.» Und Armin Sieber betont: «Ohne Schulleitende geht es nicht. Sie müssen diese Vision teilen.» Man könne das System Schule auch nicht «auf einmal» umkrempeln: «Die Einführung von Soziokratie ist ein Kulturwandel. Und das braucht Zeit. Es geht darum, alle Beteiligten (Lehrer*innen, Schüler*innen, Eltern) einzuladen und mitzunehmen auf eine gemeinsam gestaltete Zukunftsreise.»