«Die Qualität unserer Organisation hängt ab von der Art unseres Denkens»
Organisationsentwicklung als gemeinsamer Mindshift
Soziokratie wäre nicht notwendig, wenn jede(r) Einzelne seine alltäglichen Bedürfnisse ohne die Mitwirkung anderer erfüllen könnte. Doch wir leben in einer höchst arbeitsteiligen Gesellschaft. Gruppen und Organisationen bilden und verbinden sich. Quelle der Kreativität in ihnen sind – nach soziokratischer Überzeugung – die einzelnen Menschen in ihrer Zusammenarbeit. Sofern es gelingt, geeignete Entscheidungs- und Organisationsstrukturen zu schaffen, in denen alle – in ihrer notwendigen und unvermeidlichen Unterschiedlichkeit – produktiv werden können. Produktiv in dem Sinne, als das Ziel der jeweiligen Organisation erreicht und die Bedürfnisse der Kund*innen erfüllt werden.
Die Haltung jeder einzelnen Person
Als Gerard Endenburg vor mehr als 50Jahren das Soziokratische Kreisorganisationsmodell (SKM) in seinem eigenen Unternehmen entwickelte, ging er davon aus, dass sein System so unmittelbar einleuchtend, einfach und selbsterklärend wäre, dass es keine Schulung braucht. Seit langem wissen wir, wie erfolgsentscheidend eine qualifizierte Begleitung und Schulung für die praktische Umsetzung in den Organisationen ist. Gerade weil es auf jeden einzelnen Menschen und seinen bzw. ihren Beitrag ankommt, ist die Haltung bzw. das daraus resultierende Verhalten jeder einzelnen Person für das Ausschöpfen der Wirksamkeit soziokratischer Methoden zentral. Annewiek Reijmer, CEO von TheSociocracy Group und Beraterin der ersten Stunde, weiss: «Die Qualität einer Organisation oder Gesellschaft hängt ab von Grad der Entwicklung der Einzelnen in dieser Organisation bzw. Gesellschaft. Sie hängt ab von der Qualität unseres Denkens.»
Warum das nicht automatisch geht
Diese Haltungsveränderung nennen wir «Mindshift». Warum das nicht automatisch geht, erklärt Pieter van der Meché aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung in der soziokratischen Beratung und Begleitung von Organisationen so: «Eine grosse Herausforderung liegt in unseren bisherigen Verhaltensmustern, die sich oft als Antwort auf den konventionellen, linearen Umgang mit Macht entwickelt haben. Diese Verhaltensmuster bestehen oft aus einer Mischung aus Streiten, Flüchten oder Erstarren. Sie treten dann besonders stark an die Oberfläche, wenn wir in spannungsvolle Situationen geraten.» In den meisten Umfeldern, in denen wir aufwachsen, lernen, leben und arbeiten, haben wir wenig Gelegenheit, andersartige Denk- und Verhaltensweisen kennenzulernen und zu erproben. Deshalb ist die Teilnahme an einem soziokratischen Seminar oder der Einstieg in soziokratisches Arbeiten in der eigenen Organisation immer auch die Gelegenheit, einen anderen Umgang miteinander und mit Macht zu erleben.
Sechs Aspekte eines «Sociocratic Mindset»
Für diesen anderen Umgang miteinander und mit Macht erweisen sich erfahrungsgemäss insbesondere folgende Aspekte als bedeutsam und hilfreich:
- Eine Lernhaltung, also korrigierbar sein und offen für echtes Feedback – top down & bottom up
- Sowohl-als-auch-Denken, also an anderen Perspektiven wirklich interessiert sein & diese integrieren wollen
- Spannungen als Quelle von Kreativität nutzen, sie als Potenzial & Lieferantin von notwendiger Energie betrachten
- Fokus auf das gemeinsame Ziel, also versuchen, die eigenen Ideen, Anliegen und Bedenken auf einer höheren Ebene mit dem gemeinsamen Anliegen verknüpfen
- Toleranz für Abweichungen, also sich und anderen zugestehen, dass der beste Weg von A nach B in der Realität anders aussieht als eine mit dem Lineal gezogene Gerade
- Zu unterscheiden, nicht zu trennen, also z. B. Zuständigkeitsbereiche klar zu differenzieren & dafür Sorge zu tragen, dass sie miteinander verbunden und für gemeinsame Entscheidungen «im Gespräch sind»
Soziokratischer Umgang mit Spannung
Vor allem brauchen wir einen soziokratischen Umgang mit Spannung, eine Lernhaltung. Diese Lernhaltung ermöglicht uns, auch wenn wir viel Spannung erfahren, sie zu regulieren. Das bedeutet: mit den unterschiedlichen Sichtweisen in Verbindung zu bleiben, ihre Gleichwertigkeit aufrecht zu erhalten und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Hier oft besonders schwierig: Die Situation nicht nur aus der eigenen Perspektive zu betrachten, und die unterschiedlichen Sichtweisen auf einander abzustimmen, statt sie abzulehnen. Die soziokratische Haltung beginnt bereits bei der Motivation für die Anwendung der SKM. Wenn man SKM betrachtet als ein Mittel, um Andere von eigenen Plänen zu überzeugen oder Leitung und Hierarchie pauschal abzulehnen oder als etwas, womit Andere (z. B. die Leitung) dir Gleichwertigkeit verschaffen sollen, dann wird SKM nicht die für die Organisation und Mitarbeitenden gesuchte Wirkung haben. Dann bleiben wir in den alten Mustern und es wird nicht gelingen, mit Hilfe der SKM die Qualität und Effektivität der Zusammenarbeit für alle Beteiligten zu steigern.
Organisationsentwicklung ist gemeinsames Umdenken («Mindshift»)
Mit anderen Worten: Wenn wir uns als Individuum, Gruppe und Organisation weiterentwickeln wollen, brauchen wir den Mut, die eigene Sichtweise zu vertreten und sie gleichzeitig kritisch zu hinterfragen und bei Bedarf anzupassen. Das erfordert nicht zuletzt die Fähigkeit, sich selbst, das eigene Denken, Fühlen und Wollen so kritisch wie liebevoll zu reflektieren. Ohne SKM wird den Beteiligten in der Regel die dafür notwendige Grundlage an Sicherheit fehlen, sich auf dieses Wagnis einzulassen. Zu wirksam bleiben dann die «eingefleischten» durchsetzungsorientierten Strategien, wie sie uns in Gruppen und Organisationen Anerkennung usw. verschaffen sollen.
Marshall Rosenberg, einer der weltweit wirkungsvollsten Schüler und Weiterentwickler von Carl Rogers in der Lösung individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Konflikte, beschreibt seine jahrzehntelange Erfahrung so: «Wenn die Menschen mir vertrauen, dass ich gleichermassen an ihren wie an meinen Bedürfnissen interessiert bin, dann sind 90 % des Problems bewältigt.» SKM bietet Organisationen den dafür notwendigen Rahmen.
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