Sind Kinder zu jung für Mitbestimmung? (Teil I)
Stimmt das? In der soziokratisch organisierten Grundschule De School in Zandvoort (Niederlanden) entscheiden Kinder ab vier Jahren mit, was im Klassenzimmer – und in der gesamten Schule – vor sich geht und was nicht. Diese grössere Autonomie ist gut für ihre intrinsische Motivation.
Djennah (11), Annemijn (10) und Syp (8) sitzen im kleinen Büro der Schule und sprechen vom Alltag in ihrer Schule und von ihren Erfahrungen mit Soziokratie. Sie haben viel zu erzählen. Djennah berichtet, wie sie sich erfolgreich für eine Veränderung des Mittagessens einsetzten, das sie jeden Tag zusammen in der Schule essen («zu viele Fleischfüllungen»). Annemijn erzählt von ihrem speziellen Gymnastik-Training, das sie auf ihren Wunsch hin absolvieren kann. Syp sagt, dass er gegen die Abschaffung des Wassertags war («Wasser trinken ist gesund!») und die Kinder nun an einem anderen Tag als Montag nur Wasser und keinen Saft trinken. Und Djennah berichtet von dem Moment, als sie als Delegierte in den Kreis der Schüler*innen gewählt wurde.
Während der gesamten Diskussion verwenden die Kinder ganz selbstverständlich soziokratische Begriffe wie «Konsent», «delegieren» und «Kreis». Für sie scheint die Sache klar zu sein. Annemijn erklärt, wie Entscheidungen im Konsent getroffen werden: «Wir reden im Kreis. Ist es sinnvoll, etwas zu tun? Dann wird ein Vorschlag gemacht, und wenn alle zustimmen, wird die Entscheidung getroffen. Wenn nicht alle einverstanden sind, wird weitergeredet, bis es einen Konsent gibt.»
Eine mit Hilfe von soziokratischen Kreisen organisierte Schule
De School organisiert sich mit Hilfe des Soziokratischen Kreisorganisationsmodells (SKM). Die Schule, die aus Unter-, Mittel- und Oberstufe besteht, ist 50 Wochen im Jahr von 8.00 bis 18.00 Uhr geöffnet und die Kinderbetreuung ist in die Schule integriert. Jedes Kind erhält eine massgeschneiderte Ausbildung und statt des klassischen Unterrichts in Fächern gibt es alle 10 Wochen einen neuen Themenblock, zu dem dann die gesamte Schule arbeitet.
Doch das Soziokratische Kreisorganisationsmodell ist eine Organisationsmethode, die sonst in Firmen, NGOs, Wohngenossenschaften etc. verwendet wird. Verstehen Kinder das überhaupt? Sind sie nicht zu jung dafür? Und was haben sie davon?
«Es ist nicht so, dass die Kinder an der Schule gesondert in Soziokratie unterrichtet werden. Sie werden auf natürliche Art und Weise einbezogen», sagt Direktorin Rosanne Maters. Sobald sie in der Schule ankommen, sitzen sie im Kreis. Sie hören, wie die Lehrperson über die Tagesordnung spricht und sehen, wie ihre Mitschüler*innen im Kreis stehen und darauf warten, dass sie an die Reihe kommen zu sprechen.
Die Kreise sind wichtig für die Schule. Sie sind auf allen Ebenen präsent, von der persönlichen über die schulische bis zur administrativen Ebene. Die verschiedenen Kreise sind durch das Prinzip der Doppelten Kopplung verbunden, was sowohl Botton-Up als auch Top-Down Steuerung ermöglicht. Zusammen bilden sie die Struktur einer Art Mini-Gesellschaft, in der Schüler*innen, Eltern und Lehrpersonen gemeinsam Entscheidungen treffen.
Der persönliche Kreis
Auf der untersten Organisationsebene gibt es den persönlichen Kreis – ein persönliches Entwicklungsgespräch, an dem jedes Kind alle zehn Wochen zusammen mit der Lehrperson und seinen Eltern seine persönlichen Lernziele bestimmen kann. Wie ist es mit dem gelaufen, was es sich vorgenommen hat? Was will es die nächsten 10 Wochen tun?
Direktorin Rosanne Maters sagt: «Jedes Kind hat einen persönlichen Kreis, in dem man an seiner persönlichen Entwicklung arbeitet. Es geht darum, warum du in der Schule bist, was du lernen willst und wie du es lernen willst. Die Kinder lernen, mit Enttäuschungen umzugehen, zum Beispiel, wenn ein Plan nicht so gut aufgeht wie erhofft. Das Gute daran ist, dass Kind, Eltern und Lehrer*in gemeinsam darüber sprechen und einen neuen Plan machen können.»
Im Büro von De School sprechen die Kinder viel über ihren persönlichen Kreis. Djennah erzählt, was sie aus diesen Gesprächen gelernt hat: «Früher wollte ich immer die Schnellste sein, ich wollte direkt in die höchste Gruppe kommen und alles gut machen. Als das nicht klappte, war ich traurig. Jetzt verstehe ich das alles ein bisschen besser.»
Neben dem persönlichen Kreis für jedes Kind gibt es z. B. auch den Kreis der Schüler*innen und den Elternkreis. Dazu mehr in Teil II dieses Artikels.
Wollen Sie mehr über Kinder und Soziokratie wissen? Im Interview mit Rosanne Maters, der Direktorin von De School, erfahren Sie mehr darüber, wie Soziokratie auch in der Familie angewandt werden kann.