Soziokratie ist nicht Soft
Soziokratie ist nicht Soft
Vorteile und Versuchungen für Top Manager
Fragen an Piet Slieker, langjähriger CEO von Endenburg Elektrotechniek,
dem soziokratischen Pionierunternehmen
Piet, Du hast vor kurzem einmal in einer Gesprächsrunde erzählt, Soziokratie macht die Leitung eines Unternehmens so einfach. Wie meinst Du das?
Soziokratie lässt die Mitarbeitenden erleben, dass sie in ihrem eigenen Unternehmen arbeiten. Denn sie können alle wichtigen Dinge, alle wichtigen Entscheidungen über die Kreisstruktur beeinflussen. Die Verantwortlichkeit ist geteilt. Als CEO kannst Du die Mitarbeitenden unterstützen, ihre Probleme selbst zu lösen. Es geht darum, die jetzt beste Lösung zu finden. Sie dürfen dabei Fehler machen und daraus lernen. Das fühlt sich für alle gut an.
Welche weiteren Vorteile soziokratischen Arbeitens siehst Du?
Es geht darum, den besten Weg zu finden, wie etwas getan werden kann. Soziokratie legt sehr grossen Wert darauf zu klären, wer welchen Aufgaben- und Verantwortungsbereich (Domain) hat. Das ermöglicht allen, auf dieser Grundlage so autonom wie möglich am gemeinsamen Ziel zu arbeiten.
Dabei werden Grundsatzentscheidungen (Rahmenbedingungen, Kriterien für die Ausführung) auf den verschiedenen Kreisebenen (gesamtes Unternehmen, Bereich, Abteilung, Team) von den jeweiligen Beteiligten gleichwertig getroffen. Die Ausführung bzw. Umsetzung der Entscheidungen erfolgt effizient innerhalb der vorhandenen Linienstruktur, die in der Regel klar hierarchisch ist.
D. h. aus Effizienzgründen sind Führungspersonen in der Ausführung häufig ganz klassisch weisungsbefugt. Doch wie geführt wird, welche Grundsätze in welchem Kreis dafür gelten, also „welche Befehle möglich sind“, das wird mit Blick auf die möglichst sinnvolle Erreichung des gemeinsamen Ziels gleichwertig im Kreis entschieden.
Und wer mit den getroffenen Entscheidungen nicht einverstanden ist, kann sie über die Kreisstruktur wieder zum Thema machen. Auf diese Weise können schlechte Entscheidungen leicht erkannt und korrigiert werden. Das Feedback, die Rückkoppelung funktioniert in beide Richtungen.
Deshalb ist meine Erfahrung: Wenn Mitarbeitende das Unternehmen verlassen haben, weil sie woanders mehr Geld oder höhere Positionen einnehmen konnten – die allermeisten sind zurückgekommen. Wer einmal erlebt hat, was Soziokratisches Arbeiten Mitarbeitenden ermöglicht, wird darauf nicht mehr verzichten wollen. Und ich habe gesagt: „Willkommen zurück. Einmal.“ Keiner ist wieder gegangen.
Wie erklärst Du Dir, dass viele Top Manager dennoch eine Anwendung soziokratischer Instrumente bislang nicht ernsthaft in Erwägung ziehen. Was sind die Stolpersteine, was denkst Du, lässt sie zurückschrecken?
Sie denken häufig, Soziokratie wäre soft. Doch es geht nicht um hart oder weich, sondern um die Frage, wie die besten Entscheidungen getroffen werden können.
Als Top Manager brauche ich die Mitarbeitenden. Sie wissen, wie die Probleme auf die beste Weise gelöst werden können. Es geht nicht um Macht oder Geld, sondern darum, wie das Unternehmen längerfristig den Kund*innen nützlich sein kann. Wie soll das gehen, wenn die Mitarbeitenden sich nicht entwickeln können?
Und die Kund*innen wissen es sehr zu schätzen, wenn ihre Ansprechpersonen hoch motiviert und überzeugt sind vom eigenen Unternehmen.
In der Schweiz gab es kürzlich einen Fall, der in den Medien einigen Wirbel erzeugt hat. Ein renommierter Reiseveranstalter hatte Bestandteile soziokratischen Arbeitens eingeführt, das Ganze Globokratie genannt und dann, wenige Monate später, die Mitarbeitenden dazu veranlasst, selbst zu entscheiden, wer in einer grossen Kündigungswelle seinen Job behalten darf. Was denkst Du spontan dazu?
Alle Mitarbeitenden in einer nicht erst seit gestern soziokratisch arbeitenden Organisation können die Zuversicht haben: Entlassungen sind die allerletzte Möglichkeit. Ich erinnere mich an eine Situation, wo wir in der Geschäftsleitung aufgrund der anhaltend schlechten Wirtschaftslage zu der Überzeugung gekommen waren, dass 20 Personen entlassen werden müssten. Wir haben das dann im Unternehmenskreis besprochen (dort sind alle Bereiche mit je ihren Leitungen und den aus den Bereichen gewählten Delegierten vertreten). Und wir sind gemeinsam zu der Überzeugung gekommen, dass wir doch Chancen haben, noch zusätzliche Aufträge zu bekommen. Der Fokus verschob sich von „Entlassung“ zu „neue Geschäftsfelder“. Und tatsächlich ist es gelungen. Schliesslich mussten drei Personen, nicht 20 entlassen werden. Das war schmerzhaft genug.
Und wie war das Verfahren für diese Entlassungen?
In Zusammenarbeit von Topkreis* und Unternehmenskreis (siehe oben) wurden die notwendigen Grundsätze (Kriterien) dafür beschlossen.
Die konkreten Namen der Personen sind dann von den verantwortlichen Vorgesetzten in den Bereichen auf der Grundlage dieser gemeinsam erarbeiteten Kriterien ausgewählt worden.
Die drei Personen haben das Unternehmen mit einem einmaligen Geldbetrag und der Zusage verlassen, zurückkommen zu können, sobald es die Geschäftslage zulässt.
Wie gesagt, das war nicht einfach. Doch auch soziokratisch arbeitende Organisationen leben nicht im Paradies.
Abgesehen von der Abwälzung unangenehmer Verantwortung: Welche Versuchungen für Führungskräfte gibt es in Zusammenhang mit Soziokratie? Welche Gefahren siehst Du?
Es braucht die Bereitschaft, Macht zu teilen. Es braucht die Erkenntnis, als CEO, als Führungskraft nicht alles besser wissen zu können. Es braucht den Willen, nicht nur den eigenen Ideen, was die beste Lösung ist, folgen zu wollen. Wer einen trumpschen Stil schätzt, wird nicht soziokratisch arbeiten können.
Was hilft diese Gefahren zu verringern oder zu vermeiden?
Die echte Bereitschaft, traditionelles Denken zu überprüfen. Wir alle stecken wohl am Anfang mehr oder weniger in solchem traditionellen Denken fest. Wenigen fällt es von Anfang an leicht, den Fokus auf das gemeinsame Ziel zu richten, nicht die eigenen Lieblingslösungen durchsetzen zu wollen. Das gehört zu den grossen Herausforderungen, wenn man sich für Soziokratisches Arbeiten entscheidet.
Und es braucht die Bereitschaft, Geduld und Geld zu investieren, um sich mit dem Soziokratischen Modell vertraut zu machen, es in der eigenen Praxis anwenden zu können.
Weil man leicht wieder in das alte Funktionieren zurückrutscht, sollte man sich mindestens am Anfang extern unterstützen und begleiten lassen.
Wie erklärst Du einem CEO-Kollegen, was die soziokratische Learner’s Attitude für ihn bzw. sie bedeutet – und für die Führungskräfte, Projektleitenden, Mitarbeitenden?
Lernen heisst, zu wissen was es braucht. Dazu muss man mit den Leuten reden. Mit denen, die den Job machen. Wirklich an ihnen interessiert sein – am ganzen Menschen. Und bereit sein, sich korrigieren zu lassen. Sich überzeugen lassen, es schätzen, dazulernen zu können. Wenn sich das auch im Moment nicht angenehm anfühlen sollte. Aber darum geht es nicht. Soziokratie ist nicht soft.
‚Soziokratie ist nicht soft’. Da werden einige Leute überrascht sein. Deine abschliessende Empfehlung an uns?
Klärt die Domains gut ab, die Aufgabenbereiche. Alles kann diskutiert werden. Aber nicht alle sollen alles entscheiden, sondern die, die das jeweils nötige Wissen dazu haben.
Und: Wenn manche Führungskräfte wirklich alles alleine entscheiden wollen, macht es wenig Sinn, sie von Soziokratie überzeugen zu wollen.
Herzlichen Dank, Piet. Alles gute Dir!
* Topkreis = eine erweiterte Form des in der Schweiz üblichen Verwaltungsrats auf der Basis gleichwertiger Entscheidungsfindung
Weitere Informationen für Leitende finden Sie unter Agile & Verlässliche Führung.
Oder Sie senden eine Mail an markus.hoening@thesociocracygroup.ch