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Spannungen sind produktiv

Für viele ist klar: In Organisationen soll Harmonie herrschen, Spannungen sind zu vermeiden. Andere meinen, nur unter Hochspannung funktionieren zu können. Doch Harmonie ist keine Spannungslosigkeit – und nicht nur Saiten reissen bei zu grosser Anspannung. Musik ist eine
Vibration, die nur entstehen kann, wenn Spannung erzeugt wird. Eine Geige ist nur zu hören, wenn die Violinsaiten angespannt werden. Ob daraus der erwünschte Klang entsteht, hängt ab von den Fähigkeiten der Geigenspielerin, die Spannung der Violinsaiten richtig zu dosieren. Die gleiche Herausforderung stellt sich beim Steuern der Zusammenarbeit in Organisationen.

Probleme entstehen, wenn zu viel oder zu wenig Spannung im Team bzw. der Organisation vorliegen. Es geht darum, das richtige Mass an Spannung zu erzeugen, was einen dynamischen und sicheren Kreisprozess verlangt. So kommt die Soziokratie ins Spiel als Instrument, um Spannung besser zu steuern. Man könnte sagen: eine verbesserte Geige. Doch die verbesserte Geige führt nur dann zum erwünschten Ergebnis, wenn die Geigenspielerin lernt, auf neue Weise Spannung zu steuern. Und das braucht eine neue Haltung in Bezug auf das Steuern von Spannung: auf der Basis von Gleichwertigkeit in der Beschlussfassung gemeinsam zu lernen, statt in Spannungssituationen gegeneinander zu kämpfen, zu flüchten oder zu erstarren. Mit anderen Worten: Spannungen sind im Zusammenleben und -arbeiten von Menschen so unumgänglich wie notwendig, weil sie – eine geeignete Handhabung vorausgesetzt – genau die Energie liefern, die Menschen und Organisationen brauchen, um ihre Aufgaben gut erfüllen zu können.

Daran schliesst das soziokratische Denken an und schlägt vor, die Fähigkeiten des produktiven Umgangs mit Spannungen bei den Menschen und in der Organisation zu kultivieren und auszubauen. Das bedeutet ganz grundsätzlich, mit Unterschieden anders umgehen zu lernen. Nicht zu versuchen, Unterschiede zu neutralisieren, indem sie verneint, nicht beachtet oder durch Einsatz von Macht-über-Mitteln vorschnell beseitigt werden, erweist sich in der Praxis als grundlegend wichtig. Stattdessen gilt es, den Fokus auf das Herstellen von Zusammenhängen zwischen den unterschiedlichen Sichtweisen zu richten, damit gemeinsame, nicht selten neue und unerwartete Lösungen – Synthesen im Wortsinn – entstehen können. Für das Gelingen dieser Entwicklung kommt insbesondere Führungskräften (Leitungsgebenden) und der Moderation eine grosse Bedeutung zu. Darüber hinaus kann und soll jede(r) Teilnehmer*in der Organisation den eigenen, unvertretbaren Beitrag leisten, indem er und sie lernt, das Konsentprinzip auch auf den Umgang mit den eigenen inneren Ambivalenzen anzuwenden.

Die Rolle der Leitenden

Für soziokratisch arbeitende Führungskräfte, also Leitungsgebende, geht es um die Einsicht in die Bedingungen für das Leiten eines dynamischen Prozesses. Zentral dafür ist u. a. das Schaffen einer Basis von Sicherheit für alle Mitarbeitenden und das Bereitstellen einer Organisations- und Sitzungsstruktur, die das Steuern von dynamischen Prozessen ermöglicht. Leitungsgebende müssen innerhalb dieser Prozesse in geeigneter Weise mit Spannungen umgehen. Am Anfang steht eine Zielsetzung, die die Betroffenen anspricht. Mit Antoine de Saint Exupéry: das lebendige Bild des ganzen Bootes, das Verlangen nach dem Meer…

Bei den Betroffenen soll ein Spannungsfeld entstehen zwischen der bestehenden Situation und dem anvisierten Ergebnis. Der Anstoss zu dieser Spannung geht von den Leitungsgebenden aus, indem sie im Kreis die Vision, Mission, Zielsetzung, Grundsätze und Strategien ansprechen und im Konsent Absprachen treffen. Wenn die grundsätzlichen Absprachen im Kreis getroffen sind, dann gehen alle an ihre Arbeit, diese umzusetzen.

Für die Ausführenden muss genügend Bandbreite bleiben, mit unerwarteten Störungen umzugehen und die Spannungen, die diese erzeugen, steuern zu können. Wird die Spannung einer Mitarbeiterin zu gross, dann muss die Leitungsgebende eingreifen, z. B. durch das Anbieten
von Unterstützung wie fachlichem Feedback, Schulungen etc. Wird die Spannung zu klein, dann wird die Leitende die Spannung vergrössern. Z. B. indem sie Informationen (Messdaten) einbringt, die die Ist-Situation mit der Soll-Situation vergleichen und zeigen, was noch nicht gut (genug) gelingt.

Auf diese Weise erfüllt sie ihren Beitrag, die Aufträge der internen und externen Kund*innen bzw. der Gesellschaft im Blick zu behalten. Innerhalb ihres Leitungsbereichs hat die Leitungsgebende den Kreis als Resonanzraum, um insbesondere eine zu gross gewordene Spannung zu thematisieren. Wie wichtig das ist, hängt damit zusammen, dass das Leugnen von Spannungen zu versteckten und damit unsteuerbaren Prozessen führt – innerhalb des eigenen Bereichs und mit anderen Bereichen.

Die Rolle der Moderation

Während also Leitende eines Kreises dessen Zielerreichung insgesamt im Blick haben, besteht die Aufgabe der soziokratischen Moderation (Gesprächsleitung) insbesondere darin, die Kreisversammlungen effizient und unter gleichwertiger Einbeziehung aller Mitglieder dieses Kreises zu steuern. Die Moderation achtet dabei vor allem auf die soziokratische Sitzungs- bzw. Versammlungsstruktur und die Konsententscheidungsprozesse.

Bei beidem geht es um das Gewährleisten eines sicheren und produktiven Raumes, in dem sich Unterschiede kreativ und zielgerichtet zu jetzt benötigten neuen Lösungen verbinden können – gut genug für jetzt und sicher genug, es auszuprobieren. Aufgabe der Moderation ist, den Versammlungsprozess so zu steuern, dass die Spannungen weder zu gross (eskalierender Konflikt) noch zu klein (zu wenig gute Ideen und Lösungsvorschläge) werden.

Innere Ambivalenzen und das Soziokratische Innere Team (SIT)

Doch alle Mitglieder eines Kreises sind für das Erreichen des gemeinsamen Ziels verantwortlich, nicht nur Leitungsgebende und Moderation. Denn jedes Mitglied leitet ja den eigenen Aufgabenbereich, wo sie bzw. er für die Spannungsregulierung nach aussen (gegenüber den
anderen Kreismitgliedern) und innen (mit den eigenen Stimmungen, Ambivalenzen etc.) verantwortlich ist. Im Umgang mit den eigenen Stimmungen, Motiven und Bedürfnissen samt den daraus resultierenden Spannungen hilft das Soziokratische Innere Team, die äussere
soziokratische Arbeit auch für sich selbst, mit dem eigenen inneren Kreis praktizieren zu können. Gelingt es, die inneren Kreismitglieder (innere «Stimmen» oder «Personen») auf diese Weise miteinander ins Gespräch und in einen strukturierten Entscheidungsprozess («innerer Konsent») zu bringen, können eigene Entscheidungen schneller und in besserer, tragfähigerer Weise
getroffen werden.

Soziokratisch gesehen ist also auch hier das bewusste Wahrnehmen und Steuern von Spannungen ein wesentlicher Beitrag, um eine kreative und effektive Form von Harmonie zu
gewährleisten. Allerdings erfordert dies für alle Beteiligten einen «spannenden» Lernprozess, der in der Regel externe Begleitung erfordert.