Vom Meer und Bergen lernen
Es ist warm. Wir spüren vom Meer herkommend den Wind sanft an uns vorbeistreichen. Der Himmel ist blau und weit. Leises Wellenrauschen und ferner Möwengesang in unseren Ohren. Wir sind da. Wir sind Teil des Ganzen. Die Schönheit unserer Umgebung und die Weite des Freiheitsgefühls, wir gehören dazu. Wir sind verbunden mit all dem, ob am Strand oder in den Bergen. Isoliert zu sein fühlt sich anders an. Nur die eigenen Aufgaben im Blick haben können und nicht auch die der anderen wird schnell gefährlich. Wenn auf körperlicher Ebene das jeweils grössere Ganze nicht mitgedacht wird, ergeben sich schwerwiegende Erkrankungen, weil Zellen ohne angemessene Verbindung und Rückkoppelung mit dem Gesamtorganismus handeln. Was sich zwar aus Sicht isolierter Zellen als eindrucksvolles Wachstum darstellt, kann benachbarte Bereiche schädigen und die Lebensfähigkeit des Ganzen gefährden. Unsere üblichen linearen Strukturen in Organisationen erzeugen diese Form von isoliertem Denken.
Organisationen sollen Zusammenarbeit organisieren
Warum schliessen sich Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Kenntnissen zu Gruppen und Organisationen zusammen? Weil anspruchsvolle Aufgaben, Produkte bzw. Dienstleistungen von Einzelnen nur schwer oder gar nicht erbracht werden können. Organisationen sind also Kooperationsräume, um (anspruchsvolle) menschliche und gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllen zu können. Deshalb kann die Überwindung isolierten Denkens nicht darin liegen, lineare Strukturen einfach aufzulösen in lose verbundene
Netzwerke mit jeweils individuellen Zuständigkeitsbereichen (was derzeit vielerorts als modern empfohlen und versucht wird). Stattdessen stehen Organisationen vor der grossen Herausforderung, wie sie die Fokussierung auf jeweils eigene und auf (alle) anderen Bereiche in geeigneter Weise verknüpfen können. Wer in Organisationen arbeitet, weiss, wie schwierig das ist. Es geht also um die Art und Weise der Verbindung zwischen den einzelnen Akteur:innen und Organisationseinheiten. Soziokratisch geschieht dies unter anderem durch die Orientierung am gemeinsamen Ziel und dem Aufbau einer die vorhandene Struktur ergänzenden Kreisorganisation.
Ist das Gemeinsame Ziel wirklich klar und gemeinsam?
Das gemeinsame Ziel eines Bereichs (Abteilung, Team) ist der konkrete Ausdruck des Beitrags dieser Organisationseinheit, um Kund*innenbedürfnisse bzw. das gemeinsame Ziel der Gesamtorganisation zu erfüllen. Dieses erwünschte Ergebnis ist aus soziokratischer Sicht besonders bedeutsam und deshalb so deutlich, spezifisch und verständlich wie möglich zu formulieren. Das gemeinsame Ziel gibt dem Team eine klare Orientierung über seinen Aufgaben- und Entscheidungsbereich. Ein insofern ausdrücklich und im Konsent formuliertes gemeinsames Ziel bildet auch den Massstab für die Messung der Arbeitsergebnisse. Und für die Beurteilung der Argumente beim Treffen von Entscheidungen. Bereits im Prozess des Aufstellens des gemeinsamen Ziels werden unterschiedliche Sichtweisen in strukturierter Weise sichtbar. Und damit besser steuerbar. Das gemeinsame Ziel vermeidet ein oft langwieriges und kaum auflösbares Aneinandervorbeireden. Es hilft, individuelle Ziele und eigene Bilder der Wirklichkeit auf das gemeinsame Ziel hin abzustimmen. Mit anderen Worten, das gemeinsame Ziel verbindet und verknüpft die Interessen, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Aktivitäten der Einzelnen mit denen des Umfelds in für die Gesamtorganisation geeigneter Weise.
Verlässlich und semiautonom – einzelne Kreise in der Kreisorganisation
Klarheit und Verlässlichkeit, was wo von wem entschieden wird, braucht es in Krisensituationen wie im Alltagsgeschäft. Das Soziokratische Kreisorganisationsmodell (SKM) legt grossen Wert darauf, dass diejenigen Menschen bei der gleichwertigen Beschlussfassung mitentscheiden, die von den Themen und Problemen direkt betroffen sind. Das sind die Themen und Probleme aus dem eigenen Arbeits- bzw. Aufgabenbereich (Domain des Kreises). Deshalb wird die Kreisstruktur der bestehenden (meist hierarchischen) Struktur hinzugefügt. Das bedeutet, vorhandene lineare Strukturen bleiben bestehen und dienen der effizienten Ausführung der gefällten Entscheidungen bzw. der alltäglichen Aufgaben. In diesem Sinne sind die einzelnen Kreise semiautonom, also in ihrem Aufgaben- und Entscheidungsbereich Selbstorganisiert und entsprechend selbstverantwortlich. Wie wir bereits oben gesehen haben, ist ein Kreis also eine Gruppe von Menschen mit gemeinsamem Ziel bzw. Aufgaben. Im jeweiligen Kreis werden in erster Linie die richtungsgebenden Rahmenbedingungen (Grundsätze) für das Arbeiten in diesem Kreis entschieden. Damit stellt der Kreis sicher, dass die gemeinsame (Ausführungs-) Arbeit unter den jeweils bestmöglichen Umständen erfolgen kann. In einer hierarchischen Organisation bewegen sich diese Grundsätze im Rahmen der Grundsätze des jeweils nächsthöheren Kreises.
Es geht ums Aufeinanderabstimmen
Durch das gleichwertige Entscheiden im Konsent können alle Anliegen in den Kreisen bzw. Ebenen der Kreis-Struktur eingebracht und in einem sicheren Entscheidungsprozess auf die berechtigten Anliegen der Anderen und des Gesamten abgestimmt werden. Dieses Aufeinanderabstimmen erreicht einen Höhepunkt im Leitungs- oder Koordinationskreis, indem alle Bereiche bzw. Abteilungen vertreten sind, um über geeignete Rahmendbedingungen zu entscheiden. Eventuell noch vorhandenes Silodenken hat in den Konsententscheidungsrunden Gelegenheit, sich auf das Gemeinsame auszurichten. Mit Hilfe der Kreisorganisation und dem Fokus auf das gemeinsame Ziel lassen sich also die unterschiedlichen Realitäten der Einzelnen und der Teams – Quelle aller Kreativität und Problemlösung – für die Organisation produktiv machen. Und die Mitarbeitenden erhalten den notwendigen Spielraum, um sinnvoll handeln und sich entwickeln zu können. Teams und Gesamtorganisation werden leichter steuerbar.